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Parlamentariertreffen 2023

Spannungsfeld Rüstungsindustrie und Neutralität der Schweiz – brauchen wir einen neuen Neutralitätsbegriff?

 

Das jährliche Parlamentariertreffen der kantonalen Offiziersgesellschaft St.Gallen widmete sich am 26.10.2023 im Hotel Einstein, St. Gallen, der Schweizer Rüstungspolitik als Pfeiler der eigenen militärischen Versorgung im Falle eines Konfliktes und beleuchtet als erstes dabei auch die Spezialität der Schweiz: ihre Neutralität. Die anschliessende Podiumsdiskussion mit drei hochkarätigen Rednern aus Wirtschaft und Armee lieferte einige Erkenntnisse und beleuchtete deutlich das Spannungsfeld Neutralität – Rüstungsindustrie – Armee.

Dr Michael M Olsansky, Militärhistoriker/Dozent für Militärgeschichte der MILAK, ETH Zürich, erklärte in einem ersten Input Referat die Geschichte der Schweizer Neutralität pointiert und auch etwas überraschend. Denn die Neutralität, welche ab 1515 erstmals den Schweizern aufgedrückt wurde, wurde über die Jahrhunderte stark unterschiedlich verstanden, gelebt und interpretiert. Nach dem 30-jährigen Krieg wurde der Schweiz erstmals deren Unabhängigkeit und Neutralität zugesprochen – jedoch unter einem Militärbündnis mit Frankreich, weil die Schweiz alleine Ihr Territorium nicht hätte verteidigen können. Die Verteidigungsfähigkeit eines Souveräns war und ist immer noch geltende Maxime im Völkerrecht. Mehrmals – auch während den Weltkriegen – wurde die Neutralität «der Zeit angemessen» (Auszug aus der BV von 1848) gelebt und ist Mittel zum Zwecke der Politik und nicht Selbstzweck. Die Haager Abkommen 1907 fixierten das erste Mal ein internationales Neutralitätsrecht im juristischen Sinne. Darin definierte die Schweiz auch explizit die Kriegsmaterialexporte: Kriegsmaterialausfuhr aus Bundesbeständen ist an kriegsführende Parteien verboten, private Kriegsmaterialexporte durften jedoch «im Gleichgewicht der verschiedenen Parteien» gehandelt werden. Erst 1972 wurde die Wiederausführung verboten und 2021 weiter verschärft. Diese Verschärfung von 2021 verunmöglicht nun auch die Unterstützung der Ukraine und stellt die Schweiz zunehmend auch neutralitätspolitisch auf die Probe. Nebst einem theoretisch noblen Ursprungsgedanken der Kriegsverhinderung zeigt die jetzige Praktik eher in Richtung Isolation der Schweiz vom internationalen Geschehen.

Oliver Dürr, CEO Rheinmetall Air Defence AG in Zürich, bestätigt das wieder gestiegene Interesse an der Rüstungsindustrie weltweit und insbesondere in Europa. Die Auftragsbücher sind mehr als voll, insbesondere die Munitionsproduktion laufe Tag und Nacht – jedoch nur im Ausland, weil niemand mehr Munition in der Schweiz kaufen will. Wiederausführungsverbot lässt grüssen. Europaweit wurde die Verteidigungsfähigkeit stark vernachlässigt und man erwacht nun ein wenig im Rahmen der Ukraine und Nahost Kriege. Eine eigene Rüstungsindustrie (Russland, USA, China, etc.) oder ein massiver Support von aussen, wie es die Ukraine gerade erleben darf, ist zwingend nötig, ansonsten ist nach ein paar Wochen Schluss mit Schiessen, Nachschub und Instandhaltung. Die Situation in der Schweizer Rüstungsindustrielandschaft ist jedoch angesichts der verhaltenen, rigiden und orientierungslosen Neutralitätspolitik des Bundes stark angeschlagen. Keine der hiesigen Rüstungsfirmen sind mehr nur Schweizerisch, alles sind Niederlassungen ausländischer Grosskonzerne. Trotzdem gibt es sehr viele Schweizer Zulieferer dieser hochtechnologischen Rüstungskonzerne. Erwartungsgemäss prüfen die internationalen Firmen, Ihre Standorte zu verlegen. Hinzu kommt, dass einige der Schweiz freundschaftlich gestimmte Länder bereits abgesprungen sind: Dänemark wie auch die Niederlande haben politisch beschlossen, künftig keine Rüstungsgüter in der Schweiz mehr zu kaufen. Weitere Länder überlegen ähnliche Schritte.

Auch Brigadier Benedikt Roos, Chef Armeeplanung, nimmt dies besorgt zur Kenntnis. Es wurden Rüstungsbeschaffungen der Schweizer Behörden im Ausland selbst mit unterzeichneten Verträgen und Konzessionsstrafen nicht ausgeführt, weil es bessere Angebote anderer Streitkräfte gab. Nebst dem, dass die Schweiz keinen Sonderstatus geniesst – wie dies Innenpolitisch gerne wahrgenommen wird – zeigt es einmal mehr, dass es bereits in Krisen keine Versorgungssicherheit gibt vom Ausland. In grösseren Krisen oder gar Kriegen muss man somit festhalten: Die Schweiz hat entweder alles Nötige bereits vorher beschafft, produziert selbst, oder steht einfach hinten an. Niemand in der Rüstungsindustrie wartet auf die Kleinmengen der Schweizer. Dies macht den Job des Armeeplaners besonders schwer, da die sehr genauen Beschaffungsvorhaben, welche in den drei Berichten Boden, Luft und Cyber, klar beschrieben sind, verzögert werden und Alternativen gefunden werden müssen. Sei dies zeitlich oder finanziell, meist beides. Für das Gesamtsystem Armee hat dies empfindliche Auswirkungen und der (Wieder-)Aufbau von Fähigkeiten wird hinausgeschoben. Wenn dann noch die finanzpolitischen Rahmenbedingungen nicht wie geplant bis 2030 das minimale 1% BIP betragen, sondern bis auf 2035 ausgedehnt werden, hat dies substanzielle Auswirkungen auf die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz. Gerade in der zunehmend angespannten Weltlage ist eine Verzögerung unserer Sicherheit um fast ein Jahrzehnt ein Spiel mit dem Feuer. Dies schwächt dies die Schweiz als verlässlichen Partner für die international Gemeinschaft. Die Schweiz steuert somit auf eine zunehmende internationale Isolation zu – rüstungsindustriell und politisch. Und dies just in einem Moment, in welchem gerade die westlichen Werte – also auch die Schweizer Werte – ständig angegriffen werden.

Interessanterweise hätte die Politik der Armee und der Sicherheit wieder zunehmend Bedeutung zugeordnet und die Armee präsentiert ein Strategiepapier, das modern, fortschrittlich und der Zeit angepasst ist. Mit den drei strategischen Stossrichtungen der Armee der adaptiven Weiterentwicklung der militärischen Fähigkeiten, der Nutzung von Chancen aufgrund des technologischen Fortschritts sowie intensivere internationale Kooperation, sind ganz wichtige Richtungen eingeschlagen worden, ohne welche die Schweiz keine Verteidigungsfähigkeit wiedererlangen kann.

Gleichzeitig zeigt es aber auch die Abhängigkeit vom Gesamtsystem Schweiz deutlich auf: Während für die Umsetzung der adaptiven Weiterentwicklung ein gutes Ausbildungskonzept armeeintern nötig ist, braucht es auch den nötigen finanziellen Rahmen und einen direkten Zugang zur Rüstungsindustrie mit verlässlichen Partnern. Dasselbe trifft noch in akzentuiertem Masse auf die Nutzung technologischen Fortschritts zu. Selbst die Politik ist sich hier einig – trotzdem wird insbesondere diese Stossrichtung ohne eine innovative, lokale Rüstungsindustrie mit guten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen scheitern. Dass dies leider nicht nur rüstungswirtschaftlich wichtig ist, zeigt uns eine weitere Eigenart der Schweiz: Die Schweiz separiert Wirtschaftspolitik, Sicherheitspolitik und Aussenpolitik unter dem Scheinargument Neutralität. Niemand tut und versteht dies. Auch die diplomatischen Erfahrungen einiger Anwesenden bestätigen diese Tatsache, dass die Schweiz aus dem Ausland momentan mit Unverständnis als komplizierten, desorientierten Partner wahrgenommen wird. Unnötig zu erklären, dass dies der dritten strategischen Stossrichtung der internationalen Kooperation wenig von Nutzen ist. Die Armee kämpft dagegen an und nutzt ihre langjährigen guten Erfahrungen mit ausländischen Streitkräften. Sie erfährt aber auch hier zunehmend Unverständnis aufgrund unserer Politik.

Die Schweizer Politik muss dringend erkennen, dass Neutralität wie in der Bundesverfassung von 1848 wieder «der Zeit angemessen» gelebt werden muss – zumal die Neutralität gerade zu dieser Zeit ein Auslaufmodell zu sein scheint. Man denke an den NATO-Beitritt von Schweden und Finnland – Skandinavische Länder, welche gemeinhin für alles als Vorbild in der Schweizer Politik herangezogen werden. Die gesetzlichen Bestimmungen der Rüstungsindustrie müssen wieder mehr Spielraum zulassen und über eine situative, moralische Beurteilung der ohnehin getätigten Kontrollen des Bundes beeinflusst werden und nicht über starre Gesetze. Und es wäre an der Zeit, dass sich die Partikularinteressen des EDI, VBS und EDA zu einer schweizerischen Gesamtpolitik zusammenschliessen würden. Es ist geradezu unsere Pflicht als neutrales Land, für unsere Werte universell einzustehen und diese auch selbstbewusst zu vertreten. Im Sinne der Schweiz, Ihrer gesamten Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft wäre dies der wichtigste Beitrag an die Sicherheit!